Mimose! Stell dich nicht so an! Überempfindlich bist du! Und, was ich mir am häufigsten anhören musste, was haften geblieben ist bis heute: Übertreib doch nicht so! Lebhafte Erinnerungen an meine Kindheit… Auch deshalb kann ich Kinder, die einfach ein bisschen anders, nämlich besonders empfindsam sind, so gut verstehen und begleiten in meinem Beruf als Ergotherapeutin.
Zart und stark
Feinfühlig für die Stimmungen der anderen, besorgt sein um Mama, Papa, Geschwister, alles in Ordnung bringen wollen. So viele Eindrücke! Geräusche, Bilder, die Menschen, was sie reden, was sie tun. Angeschaut werden. Schnell überfordert sein, wenn andere, vor allem fremde Menschen auf einen zukommen. Und das oft alles auf einmal. Das Gefühl, den Boden unter den Füßen verloren zu haben. Wohin jetzt? Mein Lieblingsplatz als Kind war zu Hause dann der Garten, der Wald auf dem Berg hinterm Haus. Oder ich verschanzte mich im Bad. Oder aber, wenn alles neu war, bekam ich erst mal Bauchweh, lag dann im Bett. Meine tränenreichen Wutausbrüche stießen in meiner Familie auf komplettes Unverständnis. Die Bestimmerin, die alles besser machen wollte. Ich war anstrengend, ganz sicher.
Diese anstrengenden Kinder, die mal so, mal so reagieren. Gute Tage, schlechte Tage haben. Die so schwer eingeschätzt werden können und oft Kopfschütteln hervorrufen! Ausgesprochen liebevoll und liebenswert, temperamentvoll und voller Begeisterung, aber auch in sich gekehrt, extrem zurückhaltend, ja auch abweisend in manchen Situationen. Wie können wir ihnen helfen, ihre Stärke und ihre Zartheit mitzunehmen in ein erfülltes Leben?
Schaut genau! Kinder mit hoher Sensibilität und Empfindsamkeit – versteht, begleitet und unterstützt sie.
Ein kurzer Abstecher zu meinen Erfahrungen dazu in der ergotherapeutischen Praxis. Eltern sind immer mehr verunsichert. Sie wollen unbedingt das Beste für ihr Kind, aber möglichst auch keine Fehler in der Erziehung machen. „Mach ich was falsch mit meinem Kind? Warum ist mein Kind auffällig in der Kitagruppe, in der Klasse?“ Heute werden Kinder differenzierter beurteilt in der Kita und auch der Schule. Ihre individuelle Entwicklung, ihre Eigenheiten werden in sogenannten Entwicklungsgesprächen regelmäßig mit den Eltern besprochen.
Insgesamt ist die Einstellung, dem Kind Zeit zu lassen in seiner Entwicklung, tendenziell einer Forderung nach früher Förderung gewichen. Soziale Medien verstärken den Trend, dass Kinder immer mehr in ‚Kategorien‘ gesehen werden. Ein paar Schlagworte, schon hat man solch eine ‚Kategorie‘ gegoogelt: Aha, so wie das Kind sich verhält, gehört es zu den Hochsensiblen. Oder: das ist ja autistisches Verhalten! Oder: oje, mein Kind hat offensichtlich ADHS! Es folgt eventuell ein Termin beim Kinderarzt.
Die Familie kommt mit einer ärztlichen Verordnung für Ergotherapie zu uns, oft mit folgenden Diagnosen für ihr Kind: Konzentrationsstörung oder ADHS/ADS, oder Verdacht auf autistisches Störungsbild oder Störung des sozialen Verhaltens… Im Praxisalltag beobachten wir die Kinder, beschäftigen uns intensiv zusammen mit dem Kind. Wir suchen nach Ursachen von besonderem, in der Kita oder in der Schule auffälligem Verhalten. Es sind sozusagen Puzzleteile die wir zusammensetzen, um ein Kind und sein Verhalten verstehen zu können. Erst dann ergeben sich für uns Möglichkeiten der Erklärung und zur Unterstützung der Eltern und Kinder, eventuell auch Hinweise zu einer medizinischen Diagnose für die verordnende Ärztin.
Und einige Kinder, die mit einem medizinischen Befund zu uns kommen, sind schlicht und einfach besonders empfindsam und sensibel. Sie sind deshalb oft überfordert in unserer lauten, bunten, schnellen Welt (ja, auch in der Kita und der Schule!). Reagieren mit Schüchternheit, Rückzug, Blockade, Wutausbrüchen, Überdrehtheit und und und…
Deshalb mein Plädoyer für die ganz empfindsamen, sensiblen Kinder: Schaut genau! Nicht alles ist eine ‚Störung‘ im medizinischen Sinn. Hohe Sensibilität und Empfindsamkeit ist eine ganz persönliche Eigenschaft, so wie das Aussehen, die Art sich zu bewegen oder Essensvorlieben. Besonders tiefe Empfindungen, starke Gefühle, intensive Gedanken, das ist, was die kleinen Menschen so anders macht. Die Welt stürmt auf sie ein – sie nehmen vieles früher und intuitiver wahr als andere Kinder. Das alles macht sie weniger belastbar.
Was wir tun können
Unterstützen können wir sie gut. Wir, die Therapeutinnen, die Familien, Erzieherinnen und Lehrerinnen. Zuerst einmal verstehen. Wie sie fühlen, empfinden, reagieren. Es gibt inzwischen eine Menge an Infos zum Thema Hochsensibilität: Literatur, Blogs, Fachartikel, Seminare – im Anhang unten findet ihr dazu Tipps und Links.
Dann die Frage wie ich helfen kann, wenn das Kind sich verliert in seiner Feinfühligkeit. Und auch hier gilt: Es gibt kein Muster. Jedes empfindsame Kind ist, wie alle Kinder, ein ganz besonderes Kind, nichts ist gleich. Mal ist es das Essen, was Bauchweh macht, für die anderen das Autofahren und die Achterbahn, wo einem schlecht wird. Die schreienden, wilden Kinder in der Kitagruppe, die Aufregung am eigenen Geburtstag, das Aufgerufenwerden in der Schule, die überbordende Phantasie, die einen abends nicht einschlafen lässt …
Vorab: Ihr braucht keine Watte, um sie darin einzupacken oder Samthandschuhe, um sie anzufassen. Empfindsame Kinder sind Kinder wie alle anderen auch, fordernd, nur eben ein bisschen anders. Manche Instagram-Posts oder Blogs zum Thema Hochsensibilität können einschüchtern: immer empathisch dabei sein, immer mitdenken, dem Kind ja nicht zu viel zumuten. Nichts verpatzen! Aus eigener Erfahrung kann ich da sagen: Ihr könnt auch mal daneben liegen mit euren Reaktionen! Super wichtig ist das danach! Wenn ihr merkt, eure Reaktion hat dem Kind jetzt wehgetan: Erklärt kurz, was los war. Eine Entschuldigung, wenn ihr ungerecht gewesen seid, ist sehr tröstlich. Empfindsame Kinder sind schnell verletzt, können aber meist auch leicht verzeihen. In den Arm nehmen. Wenn sie Geborgenheit fühlen, gehalten werden von vertrauten Menschen, können sie sich beruhigen. Auch mal aushalten, wenn die Aufregung sich nur langsam wieder legt.
Stille Zeit
Das Bedürfnis nach Stille, Ruhe, das Für-sich-sein zum Runterkommen ist, glaube ich, der wichtigste Aspekt , um einem sensiblen Kind in Extremsituationen gerecht zu werden. Ob zu Hause, unterwegs, bei Freunden, in der Kita-Gruppe, der Klasse: ein Rückzugsort ist wichtig. Eine stille Ecke, ein Raum, der Geborgenheit bietet. Kleine Kinder brauchen dabei noch sehr die Nähe von Mama, Papa, Bruder oder Schwester, Oma oder Opa, um sich wieder sicher zu fühlen. Eurem Kind dafür die notwendige Zeit lassen. Wenig reden, aber die Beschäftigung mit Büchern, Malen, etwas Kreatives gestalten, mit Tieren schmusen, das alles kann gut tun.
Du kannst das!
Verhalten kann sich immer wieder verändern. Mal ist die Vorfreude auf die Kita ganz groß, aber nach dem Wochenende ist es schon wieder zu aufregend und unbekannt, was da auf einen zukommt, macht Angst und Bauchweh. Da heißt es ein Super-Vorbild haben. Praktisch sind da Geschwister oder gute Freunde und Freundinnen, die einen mitziehen. Ansonsten seid ihr es als Eltern, die, ohne viele Worte, dem Kind die Sicherheit geben in der Situation: „Du kannst das. Ich bin mir sicher!“ Jedes Mal, immer wieder, wenn euer Kind verunsichert ist. Sucht nach Möglichkeiten, dem Kind Erfolgserlebnisse zu verschaffen. Dadurch entsteht das Selbstvertrauen, was sicher macht.
Erden
Der Kopf schwirrt, ich fühl mich schlecht. Was ist grad mit mir? Da kommt eine Wut in meinen Bauch, ich werd‘ aufgekratzt… Computerspiele, Filme gucken, laute Feste, Stadtbummel und so vieles mehr, was sensible Kinder kirre macht. Ein gutes, einfaches Rezept: raus in die Natur. In den Wald, auf die Wiese, oder auf einen Naturspielplatz. Kontakt mit der Erde, mit allem was wächst, fühlen und riechen. Das ‚erdet‘ wieder. Und ein Tipp für Eltern mit Kita-Kindern: Gibt es bei euch einen Waldkindergarten? Dann solltet ihr euch da informieren. Empfindsame, sensible Kinder können die Natur außerordentlich lieben. Die Zeit draußen ist eine Kraftquelle.
Tränen akzeptieren
Der Herzschmerz kann sehr spontan kommen und groß sein. Unangenehme Situationen bringen schnell zum Weinen. Die Lehrerin setzt ein Kind um, weil es ein bisschen zu viel mit der Freundin nebenan erzählt hat? Oder körperliche Schmerzen: Ein Stein lag im Weg, der Fuß blieb dran hängen? Bei empfindsamen Kindern laufen die Tränen. Seid als Erwachsene ein Vorbild für die anderen Kinder. Es ist besser, das Kind nicht mit zu viel Beachtung in den Mittelpunkt zu stellen. Lacht nicht, spottet nicht. Reagiert einfühlsam, aber ruhig und klar: Wenn du weinst, ist das okay! Das ist dann meistens schon eine große Beruhigung für das Kind.
Warum nicht?
Sich über (fast) alles und (fast) immer Gedanken machen, neugierige Fragen stellen: warum, warum, warum? Kann irgendwann nervig sein für die Großen, weil man ja auch wirklich nicht alles weiß. Aber warum nicht zusammen nach Antworten suchen? Sensible, empfindsame Kinder sind kreativ, phantasievoll, einfühlsam, wissbegierig, sehr gute Beobachter. Lasst euch überraschen was ihr lernen könnt von den Kindern. Entdeckt zusammen die Welt!
Noch mehr Tipps:
Es gibt sehr, sehr viel Literatur zum Thema, sehr viele Webseiten, Blogs, Coachings. Eine kleine Auswahl dazu habe ich euch zusammengestellt.
- @hochsensibler_schulalltag Instagram-Account einer hochsensiblen Lehrerin und ihrer Erfahrungen mit hochsensiblen Kindern
- www.dashochsensiblekind.com Website mit gut lesbaren Informationen, der Instagram-Account dazu: @das.hochsensible.kind
- Ina Beck: Hochsensibilität bei Kindern Kleines Buch mit viel Inhalt, super als Einstieg, aber leider nur noch gebraucht erhältlich
- Petra Neumann: Henry mit den Superkräften Ein Buch für ALLE, die empfindsame Kinder besser verstehen wollen
- Noch ein Buch von Petra Neumann: Das Handbuch für SuperFÜHLkrafthelden Ein Buch für hochsensible Kinder
- Julie Leuze: Empfindsam erziehen Ausführliches Buch mit Tipps für die ersten 10 Lebensjahre des hochsensiblen Kindes
- Bühr/Engl: Ernährung für Hochsensible Ein spannendes Thema – wie Essen und empfindsames Wesen zusammenhängen!